Hiking Maniac - oder im Altschnee der Erfahrung

Vielleicht ist Fernwandern das manischste was man manchen kann. Nirgendwo habe ich bisher in meinem Leben die Erfahrung gemacht mehr einer Unmittbarkeit meines Fühlens und Erlebens ausgesetzt zu sein als hier. Ungefiltert. Raw. Überwältigend. Ein ruppiges topographisches Auf und Ab, ist nur sinnbildlicher Ausdruck einer Topographie der eigenen Empfindungen: gülden illuminierte Gipfel in der Morgendämmerung; Gratwanderungen im Nebel bis der Himmel aufbricht; alles mitreißende Flüsse, die sich tief ihre Täler durch schwarz glänzenden Felsen gegraben haben; mäandernde steinige Pfade stets am Abgrund; an der Abbruchkante vor einem weißen Nichts; wogenden Weizenfelder in sanft gezeichneten postglazialen Dünenlandschaften; die platte repetitive Ödnis monokulturlandschaftlicher Wälder unter bleigrauen Himmel; das sprichwörtliche Hinabkriechen in die Abgründe der eigenen Angst bis die Muskeln versagen ungesichert im Klettersteig; golden roadwalks in der Abendsonne, dem ewigen Horizont entgegen... Eine Landschaft der Emotionen hat sich auf den tausenden Kilometern gezeichnet. Zwischen Hikers High und mentaler Schwerstarbeit. Irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Hier in diesem Zwischenraum sucht auch die Sprache nach ihrem Ausdruck. Durch den gefrorenen Tunnel meiner Seele, suche ich nicht nach Bildern, sondern verarbeite Bilder. Gesehenes. Erlebtes. Erfahrenes. Synthetisiert in einem sprachlichen Ausdruck, der nicht mehr gesehnes, erlebtes, erfahrenes ist - sondern transzendiert in Prosa. Es ist der Versuch vergangenes festzuhalten, ohne es zu konservieren. Es prozessierbar zu halten. "Lebendige Vergangenheit"
Eine Sprache zu finden, die dem gerecht wird kann nur eine Sprache in Bildern sein. Eine Sprache, die einen "Film in Worten" (R.D.Brinkmann) liefert: Das Gesehene wird in seiner Gesamtheit gesehen, das Bild öffnet sich innerem Erleben, äußerer Kontextualisierung, franst an den Rändern aus, flottiert frei assoziierend durch den Cortex und eröffnet neue Sinn- und Bedeutungszusammenhänge - Standbild in fast forward; das Gesehene wird auf eine Sentenz reduziert – Totale im Close-Up. Zwischen diesen Bildgebungsverfahren chargiert die Ganze Bandbreite der synthetisierten Bilder. Sie gerinnen bisweilen zur Ikonographie: Der absoluten Bedeutungsleere oder der inhaltlichen Beliebigkeit, völlig ihres Ursprungs vergessen – die ganz eigenen popkulturellen Zitate meiner Psyche. „Sprechblasen steigen aus dem übriggebliebenen Gerümpel vermittelter, sinnlich entleerter geschichtlicher Erfahrungen auf ...erstarrter literarischer Ausdruck“ nennt das Rolf Dieter Brinkmann in seinem Essay „Der Film in Worten“ 1969 – ich bin geneigt, diese aufsteigenden Sprechblasen als aufsteigend aus einem zusammengekehrten Haufen Kehricht in der Mitte eines leeren Raums zu beschreiben. Zumindest umschreibt, diese Metapher für mich am besten den Ressonanzraum der inneren Leere, die sich im Thru-Hike-Modus, nach einer nicht näher zu bestimmenden Anzahl von absolvierten Tagen und Kilometern, bei mir einstellt. Ich habe entrümpelt und ausgemistet in und durch die Bewegung und übrigbleibt, der Nachhall äußeren Erlebens das diesen Raum füllt oder in ihm ausklingt. Die Sprechblasen markieren hier ein Hochblubbern von vermeintlich verschüttetem aus dem Keller der Seele – Lieder meiner Kindheit zum Beispiel. Wenn ich wissen will, welche Songs ich 1984, neben denen von Nena und Madonna, noch toll fand, gibt es für mich zwei Möglichkeiten: Psychoanalyse oder Thru-Hike. Beides gibt ein Versprechen, an dessen Ende wir uns aussuchen können ob es sich Bewahrheitet hat. Und der Kehricht, ist nun mal Kehricht- aller psychologischen Manöver zum Trotz, von der Bürde ich selbst zu sein, bin ich nun mal nicht erlöst worden.
In einem Kaleidoskop setzen sich die Bilder, das innere, das äußere Erleben immer wieder neu zusammen – werden zusammen geschnitten /Cut / Das ist eine sehr mechanische Vorstellung, zudem eine sehr Statische. Die Bilder sind in sich geschlossene Entitäten. Mit Brinkmann könnte man auch sagen, eine sehr deutsche Vorstellung „...ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter bilderloser syntaktischer Muster...Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität“ (ebd.) /Cut / Wenn der Raum leer ist...// Break on through// Wenn der Raum leer ist, ist er Ressonanzkörper. Er ist Ressonanzkörper und Bühne eines one-take-Stücks über 2600 Kilometer. Vorhang auf.
Thru-Hike-Modus on: es stellt sich, nachdem dieser Schalter umgelegt wurde, ein episodisches Erleben von inneren und äußeren Eindrücken ein, ein beliebiges Wechselspiel zwischen den beiden und all dass unter der Ägide des scheinbar völligen Herrunterfahrens affektiver Kontrolle zugunsten eines unmittelbaren Erlebens. Der Regisseur verlässt das Set // Cut // Es ist eine scripted reality. // Der Raum ist Leer. Der Besen steht noch vergessen in der Ecke. Zufall. Fenster und Türen stehen auf. Es riecht noch etwas nach altem Muff. Frische Luft zieht herein, füllt langsam den Raum. Sanft wird Staub aufgewirbelt. Die Tür schlägt zu. // Cut // Das unmittelbare Erleben fühlt sich wie ein Manisches an. Rastlos. Unkontrolliert. Wild. Chaotisch. Ungebremst. In beide Richtungen:
...Mit dem Verlassen von Erbezzo laufe ich auf einen Bergrücken vor mir verliert sich die zersiedelte Poebene im Dunst des Horizonts, dort unten liegt Verona, rechts von mir glitzert ein Fetzen Gardasee in der Sonne. - 28 Kilometer left to go. Ein unglaubliches Hochgefühl überkommt mich, ich kann es gar nicht greifen. Ich lache, ich schreie, ich tanze, es kribbelt am ganzen Körper, hat sein Zentrum irgendwo um meinen Solarplexus, wellenförmig jagt ein Kick den Anderen und rennt einmal als Gänsehaut meine Arme und Beine rauf und runter- pures Endorphin! Reines Adrenalin! Euphorie! 
...Tags zuvor habe ich meine letzten beiden Pässe der Tour erklommen. Am letzten, dem Bocchetta Mosca sitze ich, nehme mir die Zeit, die aufkeimende Trauer hereinzulassen, sehe ihr schweigend zu wie sie sich ausbreitet – die Tür fliegt auf, Country Roads wird angestimmt, eine Gruppe Pfadfinder paradiert in den Raum... ich muss fliehen. Besagte Pfadfindergruppe hat sich den Ort nicht zu Unrecht ausgesucht. Es ist schön hier. Ich steige ab, am Refugi Scalorbi versuche ich noch einmal mit meiner Trauer zu sprechen, es geht nicht mehr... sie verdrängt mich, mein Brustkorb schnürt sich zu, Atmen fällt mir schwer. Ich steige ab. Mit jedem Schritt weiter Richtung Abgrund. Der Weg ist ausgesetzt und rutschig. Das Tal wird enger und enger. Gewitterwolken ziehen rein. Grollen, die Luft flirrt. Es wird dunkel. Ich fange an zu rennen. Angst. Am Abgrund vorbei, steige ich mäandernd hinab in einen dichten Wald. Es ist Dunkel. Atmen ist schwer...
Ich kann mich dem nicht entziehen. Ich möchte mich dem nicht entziehen.Es geht hier um mehr als das Offensichtliche. Reduced to the max. Fokus ist scharf. Und der Film läuft. Auf dem Dr. Angerer Höhenweg gilt es ein Schneefeld zu queren. Ein Schneefeld, dass sich über dick über die Rinne eines Bachs gelegt hat. Der Wanderweg ist unter ihm begraben. Kein Weg drunter durch. Kein Weg drum herum. Und kein Weg drüber. Keine Tritte, keine ausgewaschene Querungsrinne, keine Markierungen, nicht mal ein Schild das es mir verbieten würde, weil lebensgefahrlich, drüber zugehen. Ich bin bis zu diesem Schneefeld anderthalb Stunden gelaufen. Ich werde nicht wieder umkehren. Ich schaue. Kein Weg - weder drunter, drüber, drumherum. Umkehren oder rüber. Keine Tritte. Der Schnee ist verharscht, schmierig geregnet. Gefälle 30%, schätze ich. Gerade aus ungebremst runter, 100, 150 Meter - voll speed ins Bachbett. Ich bin verzweifelt. Ich fluche. Ich mache zwei halbherzige Schritte auf das Schneefeld. Schwer zu gehen. Ich checke noch einmal ob ich irgendwie anderes auf die andere Seite komme. Nein, tue ich nicht. Immer noch nicht. Damit habe ich die Gewißheit. Es gibt keinen anderen Weg. Ich weiß theoretisch und praktisch wie Schneefelder zu queren sind. Ich erinnere mich noch einmal dran. Ich erinnere mich noch einmal daran, dass hier jeder Schritt sitzen muss. Jeder Fehler führt zu schwersten Verletzungen und Tod. Ich suche mir eine imaginäre Ideallinie aus und betrete das Schneefeld. Ich bin hochkonzentriert. Jeder einzelne Schritt dauert eine seine Zeit. Erst wenn der Stand stabil, der nächste Schritt mit dem Trekking-Stock geprüft worden ist, wird der nächste Schritt auch gemacht. Ich verziehe meine Idealline etwas und komme an einer Stelle auf der Gegenseite an, an der ich das Schneefeld noch nicht verlassen kann. Kurz wallt eine nöhlende Verzweiflung in mir auf. Ich hab sie gehört, sie bringt mir nichts. Hier und Jetzt zumindest nicht. Tief Durchatmen. Zwei, drei Schritte nach unten. Stabiler Schnee. Check. Fester Stand. Check. Ein Schritt vorwärts, nach unten. Und das Ganze nocheinmal von vorn. Nach drei Schritten habe ich mit einem großen Ausfallschritt matschigen Boden unter meinen Füßen. Es ist immer noch steil ich bin fünf Meter über den Weg rausgekommen. Erst als ich unten bin atme ich wirklich auf. Ich kraxel durch schmieriges Terrain und nasse Wiesen den Bacheinschnitt hoch. Ein Jagdsitz. Ich mache Pause. So richtig gewahr ist mir nicht was da passiert ist. 
Eine Stunde später beim Blick auf den Talkessel des Gsallbaches wurde es mir gewahr. Das was ich da gemacht habe oszilliert irgendwo zwischen todesmutigem Wahnsinn und tiefsten Urvertrauen in sich selbst. Es stand zu keinem Zeitpunkt zur Dispostion, dass ich das nicht schaffe. Erst in einem späteren Gespräch mit einem anderen UL-Hiker stelle ich fest, dass ich mir noch nicht einmal Gedanken über einen Plan B beim Scheitern der Querung gemacht habe. Scheitern stand nicht auf dem Plan. In einer gefassten Ruhe handelte ich, es gab für mich nur die eine Möglichkeit. Fokus an. 

Das hier ist keine Heldenstory oder geglückte Hybris. Ich hatte kein Glück. Ich bin kein Held. Ich bin in einem Moment völliger Selbstsicherheit, einem völligen Ruhen in mir und meinen Fähigkeiten an einen Punkt gekommen, an denen ich all dies Abrufen musste. Ich habe es abrufen können weil ich es da ist. Klar und deutlich erkennbar steht es in dem leeren Raum meiner Selbst, der zum Ressonanzkörper meines Ichs geworden ist - zumindest in diesem Moment. Der Rest ist Manie. 




 

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