Lebenslauf Rheinburgenweg


Das Verhältnis zum Rheinburgenweg wird für mich immer ein Emotionales sein und damit meine ich weder 196 Kilometer Leidenschaft durch eine der schönsten Kulturlandschaften Deutschlands und auch nicht den Zwist der Subjektivitäten, ob nun sein Pendant, der Rheinsteig wirklich der Schönere sei; für mich ist der Rheinburgenweg zwischen Boppard und Bingen schlicht der Weg mitten durch mein Leben - und damit meine ich nicht lauwarmes Prosa-Stretching aus den Verlagsankündigungen obskurer Selbsterfahrungswanderführer oder die likesgenerierende schlechte Revitalisierung der selfiebegleitenden Posiealbum-Sprüche auf Instagram; Geschichte wiederholt sich nunmal als Tragödie oder Farce routiert der gute, alte Kalle im Grab - der Rheinburgenweg verläuft durch Affären, Depression, Alkoholismus, Schulabschlüsse auf Messersschneide, Adoleszenz im Ausnamezustand, Selbstmord, Vaterschaft, Morbität, Aufbruch, Ausbruch, Schnittestelle neuer und alter Lebensabschnitte, das pralle Leben das meins ist. Boppard, Downtown Biewerum, Oberheimbach, Niederheimbach, Bingen. Irgendwo genau da. Irgendwann zwischen 1984 und jetzt. Der Rheinburgenweg schreibt nicht meine Geschichte, er verbindet die Orte meiner Geschichte und das macht ihn mehr zu meinem Weg, als irgendein anderer Weg den ich kenne - ob ich will oder nicht.

Meine Eltern habe sich Mitte der 1980er für das entschieden, was auch irgendwie Hip war in und an der Peripherie der Alternativbewegung jener Dekade, irgendwo in den Depressionen des langen deutschen Herbst, dem Aufbruch der Tu-Nixe und Grünen Basis, rief laut das Land als ein Gegenentwurf. Ein privatistisches Utopia eines anderen Lebens. Und natürlich, der drohende Rausschmiss aus der Wohnung in Wiesbaden, kein Geld, oder nicht genug für einen urbanen Lebensentwurf. Traumschloss. 200 Jahre altes marodes Fachwerkhaus. Bruchbude. Alle schüttelten den Kopf, was das Leuchten in den Augen  meiner Eltern nicht weniger glimmen ließ.
Ich wurde groß auf einer Großbaustelle einer DIY-Sanierung. Und mit jedem zivilisatorischen Mindeststandard, der in das Haus einzog wurde die Familie und ihr Zusammenhalt planiert bis zur finalen Abrißbirne des Freitodes meines Vaters in eben jenem Haus. Er zerfressen von Selbstmitleid, Depression, Alkohol und Kokain dem Leben nicht mehr gewachsen, den Jungen aber so groß bekommen, dass dieser nun selber wachsen kann - unfähig den einfachen Weg selbst im selbstgewählten Sterben zu wählen vergiftete sich im Mai 1999 unter den Klängen von Sara Brightmans und Andrea Bocelli's Time to say good Bye. Das hat Stil oder es verdeckt hinter großen Tönen die Kläglichkeit des Abgangs. Aber so war er. So ist er. - Ich kenne das. Ich kann das auch. Ich bin sein Sohn.
Oberheimbach. Ort meiner Kindheit und Jugend. Staudämme bauen und Baumhäuser. Im Sommer Bolzplatz und im Winter die Wingerte mit Plastiktüten runter. Stützrad-Gang und Betamax-Pornos. Abenteuerspielplatz bis zur Pubertät und pubertäre Ödnis einer Dorfjugend, zwischen Böhse Onkelz, Störkraft, Bomberjacke und Oper Kadett oder Hip-Hop, Toy-Style Grafitti, Kiff und Ego-Shootern. Wir waren allein unter dumben Dorffaschisten und kifften uns zu Boom-Bap die Birne weg und ballerten selbige verpixelte Wolfenstein-Nazis auch weg. Meine Eltern haben sich dato dreimal getrennt und sich wieder zusammen gerauf. Axel und ich. Er verprügelt von seinem Vater, ich zerrieben zwischen Wunsch und Wollen meiner Eltern, das keinen Realitätscheck länger standhielt. Ich spannte ihm die Freundin aus. Er war meine Gras-Connection. Er trainierte Six-Pack, ich machte Schreibübungen. Er war der bessere Freestyler. Ich der bessere Writer. Von ihm lernte ich Überleben im proletarischen Mief, von mir lernte er das nicht jedes Freiheitsversprechen Freiheit ist. It's a battle, man. Nichts hat uns auseinanderbringen können
Niederheimbach. Transit raus aus dem Kaff, hier musste man durch wollte man nach Hause oder raus. Dorfgrundschule. 1987-1991. Hier legt der Direktor noch selber Hand und verprügelte die Kinder, deren Eltern sich nicht wehrten oder es als pädagogische Ergänzung der eigenen Erziehungsmethoden ansahen. Schlufhofschlägereien und damals schon Jogging-Anzugs-Stylee mit Vokuhila - was ist Berlin, diggi?! Retromania. Ich weiß nicht ob ich Schule mochte. Ich mochte meine Leherin nicht. Ein Besen von einer Frau. Alte Schule. Mir wurde nicht zugetraut auf der Schule zu bestehen. Zu anti-autoritär. Einschulungsprüfung verweigerte ich - zweidimensionale Gegenstände abzeichnen, eine Beleidigung meines Intellekts und zu druchsichtiges Unterwerfungsmanöver. Ich schmiß den Stift hin und verließ den Raum. Elterngespräch. Empfehlung für die Sonderschule. Ich blieb und bekam ein wackelige Empfehlung für's Gymnasium.
Trechtingshausen. Meine besten Grundschulfreunde -Timo und Marc - kamen aus Trexico. Am Badestrand abhängen, Fahrradtouren am Rhein, essen gehen im Hotel von Timo's Opa. Gemeinsam Marc's Eltern besuchen. Schlangen und Echsen im Terrarium bestaunen und Clash of Cultures aushalten - waren Axel's Eltern Vertreter*innen des piefigen Industrieproletariats, das ich von meinen Großeltern mütterlicherseits kannte, waren Marc's Eltern eine modernisierte Variante davon: tiefergelegte Karre, großflächig tattowiert, Ohrringe (auch der Typ), Wohnung in schwarz, purple, viel Chrom und Glas. Fußballtrainig jeden Dienstagabend. Mit Marc und anderen Jungs und Mädchen aus den den umliegenden Ortschaften. Silke war unsere beste Stürmerinnen. Ich war verknallt. F-Jugend. 
Die meisten bekamen Empfehlungen für die Hauptschule in Oberdiebach. Die meisten Kids aus Oberheimbach aus meinem Jahrgang für's Gymmi. Meine Eltern schickten mich nach Wiesbaden - keine weitere Dorfsozialisation mehr. Nicht den Weg des saufenden Dorfnazis einschlagen. 
1997, Bingen. Einläuten des vorläufig letzten Akts meiner Familie wie ich sie kannte. Meine Eltern trennten sich wieder mal. Viertes Mal seit 1991. Ich zog mit meiner Mutter nach Bingen. Diesmal fühlte es sich endgültig an. Ich schmiß die Schule 1996 in Wiesbaden. Hatte Scheiße gebaut, Angst vor den Kosequenzen und wollte weg - wahrscheinlich war es auch Ausdruck einer fortwährenden Unzufriedenheit, die ich bis heute nicht näher benennen kann. Wenn ich mir heute angucke was meine damaligen Wiesbadener Freund*innen so machen - ich habe einfach nicht dazugehört. Privatschule, Spießbaden. Ich strande in einem binger Neubau und einer Klasse, die direkt das Vorurteil des dummen Humboldt-Schülers kennt, ich tue ihnen den Gefallen und bleibe sitzen. Fünf Fünfen. Ich entdecke das autonome Jugendzentrum, den Alkohol, Bukowski, Burroughs, Brinkmann und den Punk-Rock. Ich saufe. Ich saufe viel. Drifte in Depressionen. Esse nichts, schlafe wenig, perpetuiere mein Elend. Autoaggression. Meine Eltern irgendwo gefangen in Sorge um mich und beschäftigt mit sich selbst sind ein allzeitig präsentes Hintergrundrauschen... ich dreh die Musik lauter und saufe und schreibe mir das Leben zurecht, das ich für wahrhaftig halte: North Hollywood, Köln, Tanger, Bingen. Im Nova Express durch Mittelrheintal. Pferderennbahn und Autonomes Jugendzentrum. Ich schreibe als meine Mutter vor mir steht und sagt es ist was ganz schlimmes passiert "Dein Vater ist Tod". Ich glaube ihr nicht. 
Ich lese am Grab Hardy Krüger Texte, niemand versteht es. Ich nicke das kondulieren ab und fahre mit Jane und Axel in ihrem zitronengelben Seat Marbella auf den Berg und kiffe mir Trauer weg bis am Ende eine nicht kanalisierbare dumpfe Wut des Verlassen-Seins übrigbleibt  und endloser Zynismus. 
Ich ziehe kein Jahr später in meine erste WG. Lerne die Mutter meiner Tochter kennen und lieben. Wir ziehen zusammen, bauen uns ein Nest und ich mir eine Klein-Familie, die ich nicht hatte und unbedingt haben wollte - zumindest glaubte ich das. Freund*innen schüttelten Kopf, das wir beide ein Paar werden. Hatte meine Eltern das von ihrem Traumschloß abgehalten - der Apfel, der Baum und die Physik. Ich war grade 21. An 9/11 haben wir vor dem TV-Dauerloop der einstürzenden Twin-Towern gevögelt und Anfang Juli kommt meine Tochter auf die Welt. Ich hatte seit zwei Monate mein Abi in der Tasche und fing direkt an zu studieren. Pendelte zwischen Bingen und Frankfurt und tauche in eine völlig neue Welt ein. Riots und Adorno; Backgammon und Institutsbesetzungen; Kiffen und offene Beziehungen - Krawall und Remmidemmi. Aufgesprittet mit zunächst Wodka-Redbull, später Gin-Mate und Egotronic gehts durch die Nächte im Institut für vergleichende Irrelevanz - wenn ich einen Babysitter hatte. Die Enge des selbstgewählten goldenen Familienkäfigs in funktionsdiverenzierten Wohnbeispiel eines IKEA-Kataloges war keine Sehnsucht, sondern Alptraum im Wachzustand. Die Beziehung zerbricht. 2004 ziehe ich nach Frankfurt.
 Fronleichennahm 2015 sitze ich mit meiner Mutter im Biergarten am Ex-Palazzo und trinke Gin Tonic. Ich habe soeben meine erste Mehrtages-Tour beendet. Ein paar Tage zuvor ist meine zweite Beziehung nach elf Jahren in die Brüche gegangen. Ich bin durch die Stationen meiner Kindheit, Jugend und meiner Adoleszenz gelaufen, gegen den Strom auf den Weg zu den Quellen, das sagt die Geographie. Chronologisch von meiner Kindheit in mein Erwachsen-Sein und -Werden von Oberheimbach nach Bingen.
Gestartet bin ich dato in Biebernheim. Meine Tante hat hier, vor ein paar Jahren das Haus meiner Großeltern bezogen. Hier in dem Horrorhaus meiner Kindheit und der Kindheit meines Vaters - verprügelt, mit Erwartungen überfüttert, die er nicht erfüllen konnte und wollte und wenn er es doch tat, sie nicht gewürdigt wurden - hier ist das Rüstzeug für Glanz und Gloria der Familie auf dem großväterlichen Amboss geschmiedet worden. Wenn dir eine Schlosserfaust in die Fresse saust, kannst du reden dich hat ein Pferd getreten. Sagte mir mein Vater immer.  Mein Onkel, dem die Liebe versagt wurde, weil er der "Bastard eines anderen" war und weil er als männerliebender Mann nie die Anerkannung bekam, nach der er dürstete und statt sich von der Schwulenfeindlichkeit der eigenen Eltern zu emanzipieren und sie da zu lassen wo sie hingehörten, auf ihr mieses, kleines hinterletztes Dorf im Hunsrück, sprittete er sein Ego mit Wodka Gorbatschow auf, polierte Samsonite-Koffer bei Karstadt in der Überzeugung, dass die leeren Koffer ihm die Geschichten einer Welt erzählten, die er nicht kannte, in der er nicht lebte und die er nie bereisen würde. Er hat sich 2016 in Boppard endültig todgesoffen.  
Ich habe meine  Onkel nie gemocht. Die Pomeranzenhaftigkeit seiner Weltgewandheit konnte weder durch weiße Anzüge und Seidenschals kaschiert werden. Er war ein Hybrid aus dem Klischee eines Luden und eines Künstlers. Miami Vice in Boppard. Meine Hood war Birkenstock, Leinenhose, Mercedes Benz und Ray Ban. Also was...?! Es war nicht meins. Dieses Aufschneiden müssen, weil keine Substanz da war. Ich habe es früh gespürt ohne es bennenen zu können.
In Downtown Biewerum wo mich meine Oma, stolz durch den Ort führte "Schaut her, ein  echter Wachner", ich habe es schon früh gehasst. Konnte es nicht benennen. Ich hatte Angst vor dem Haus, dem Gerümpel und dem Geruch. Ich habe mich gefürchtet im Bett meiner Oma, vor dieses riesigen Kleiderschrank. Dem museumhaften Kinderzimmer meines Vaters und seines Bruders, der Abstellkammer, das das Zimmer meiner Tante war und dem muffigen Chaos auf Opa's Schreibtisch mit eingstreuten Wehrmachts-Devotionalien. Es riecht nach den rauchgeschwängerten und schnapsseeligen Kameradentreffen, die mein Opa mit alten Sewastopol-Kämpfern regelmäßig veranstalteten - mein Vater wohnte ihnen bei, Landser-Heftchen Live. Bis er vierzehn war und die Selbstheroisierung und der nazistischen Mief nicht mehr ertragen hat. Kriegsdienstverweigerer mit Affinität zur hollywoodesken Inszenierung von Krieg im Blockbusterformat. Sublimierung muss nie glatt verlaufen. Wohl aber der Bruch mit der Familie: The Doors. Break on thru to the other side... wenn auch mit gehöriger Verspätung. Lange Haare, Parka, zerrissene Jeans. Gammler-Look. Kommunistischer Bund Westdeutschland. Wuppertal. Soziologie-Studium. Meine Mutter in ihrer Janis-Joplin Phase. Eine Flasche Apfelkorn und zwei Nächte später ziehen beide in seine Gartenlaube im Hinterhof. True Love und irgendwie startet eine ziemlich westdeutsche und ziemlich linke Bonnie und Clyde Variante irgendwo zwischen Mettmann-Tanger-Hawaii, Kinderheimjobs und Intel, zwischen Kinderladen-Bewegung und Kampf für Tempo-30 im Ortskern, irgendwo zwischen Rollin' Stones und Achim Reichel, Leninismus und Personalentwicklung;  feministischer Avangarde ohne lila Latzhose, dafür mit hochgekrempelten Macherinnen Ärmel und Donovan zum einschlafen vorsingen, zwischen Rabenmutter-Vorwürfen und unendlicher Liebe für ihren Sohn, zwischen den Scherben einer Ehe, Privatinsolvenz, Verwitwung und immer weiter machen.
Immer wenn ich in Biebernheim bin schließen sich Kreise. Meine Tante, die ihre Eltern, ihre beiden Brüder hat beerdigen müssen - hat sich lange in Morbidität gewunden, die schwer auszuhalten war, als ihr Verbündeter, als mit ihr der letzte übrige Blutsverwandte, der durch die Scheiße der Familie gewaatet ist - der Kronprinz, weil Bürden sterben nicht, wenn der Rest schon den Geist aufgibt. Seit sie den Krebs besiegt hat ist auch die Morbidität gewichen. Sie hat dem Tod der anderen ins Auge gesehen, dann ihrem eigenen. Sie bringt nichts mehr aus der Ruhe. Sie ist Profi. Und so ist der turn der Geschichte ein feminstischer, es wird viel über Männer erzählt von einem Mann, wer aber übrig bleibt sind die Frauen. Sie leben das Leben, dass sie haben und verzweifeln nicht nicht an dem Leiden und den Projektionen ihres Leidens auf andere. Sie übernehmen die Verantwortung für sich und die mit denen sie ihr Leben teilen. Sie haben mich bis hier her begleitet und schlußendlich geprägt. Wie sollte ich mich ob dieser Wendung gegen das Leben entscheiden? Das ist der Rheinburgenweg.


(Alle Fotos sind auf der Etappe zwischen Biebernheim und Boppard entstanden)

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